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Martin Beradt: Beide Seiten einer Straße, Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020
Blatt & Bild Archiv-Recherchen
Veröffentlicht von Corinna von List in Rezension · 17 Juli 2020
Tags: BerlinScheunenviertel
Der Verfasser  dieses Romans war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein hoch  angesehener Rechtsanwalt im Berlin der Weimarer Republik, der aus einem  jüdisch-orthodoxen Elternhaus stammte. Durch seine Herkunft hatte er  einen geschulten Blick auf die ostjüdische Lebenswelt der  Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten hörte diese Welt auf  zu existieren und Martin Beradt musste mit seiner Frau aus Berlin  fliehen. Sie gingen ins Exil nach London und später nach New York. Dort  starb der Autor 1949 im Alter von 68 Jahren bevor sein Roman erstmals  1965 in Deutschland erscheinen konnte.
   
Der Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“ hat für die hier vorliegende  Neuauflage eine mit historischen Fotos bebilderte, aufwändige  Hardcover-Ausgabe gewählt. Die Bilder illustrieren nicht nur die im  Roman beschriebenen Alltagsszenen, sondern zeigen auch die damaligen  Häuserfassaden, die es heute so nicht mehr gibt.
       
Im Herbst 1927 kommt Frajim Feingold in der Grenadierstraße an. Er  stammt aus einer ostjüdischen Gemeinde in Polen und dort verbindet man  mit dem Berliner Scheunenviertel viele Erwartungen an einen sozialen  Aufstieg. Diesen Blick von außen beschreibt Martin Beradt gleich zu  Anfang seines Romans quasi als eine Art Einleitung:
   
“Frajims Eltern hätten sich schon deshalb für Berlin entscheiden  dürfen, weil es in Deutschland lag. Zwar hatte in Deutschland schon  damals eine Partei gegen die Juden Drohungen ausgestoßen, aber nie, so  glaubten selbst die deutschen Juden, würde sie die Übermacht gewinnen,  viel weniger je ihre Drohungen wahrmachen. Frajims Eltern entschieden  sich für Berlin noch aus einem zweiten Grund. In [ihrer Heimatstadt]  Piaseczno erzählte man sich sagenhafte Dinge von New York, man sprach  geradezu von einem Paradies des Reichtums, und Berlin lag auf halbem Weg  dorthin.“ (S. 6f)
   
Mit Frajim Feingold betritt auch die Leserschaft die heute  untergegangene Welt der Grenadierstraße. Sie zeichnet sich durch  sozialen Zusammenhalt, Menschlichkeit – auch mit ihren Schwächen –,  tiefe Frömmigkeit und jüdischen Humor aus. Daraus entsteht ein  unerschütterlicher Lebenswille, mit dem die Bewohner und Bewohnerinnen  dieser Gasse allen Widrigkeiten und Gefahren des Alltags trotzen.
   
In Berlin hingegen war das Scheunenviertel als ein Hort des  Verbrechens und der Armut verschrien und auch diese negative Seite  findet Eingang in den Roman. Es ist die andere Seite der Straße mit  ihren Gaunern, Dirnen und Betrügern.
   
Der Roman hat weder einen Protagonisten noch einen durchgehenden  Handlungsstrang. Stattdessen beschreibt der Autor in einzelnen, oft  unverbundenen Episoden das Leben in der Grenadierstraße mit allen seinen  Freuden und Nöten. Da ist die gute Seele der Gasse, Frau Warszawski,  die jedem Neuankömmling Kost und Logie gewährt, obwohl sie selbst kaum  über die Runden kommt. Es gibt den Rabbiner, der trotz seiner eigenen  unglücklichen Familienverhältnisse anderen die Scheidung ausredet. Stets  präsent sind ferner die Hausierer und fliegenden Händler, die meistens  mit weniger als mehr Erfolg ihre Ware anpreisen. Sie alle und noch viele  andere bilden das soziale Mosaik der Grenadierstraße, die anders als  ihr damals in Berlin weit verbreiteter schlechter Ruf eine „ehrwürdige  Gasse mit Anstand war“ (S. 313).
   
Dieser Roman ist auch als ein zeithistorisches Dokument zu verstehen,  weil darin die ausgelöschte Welt des ostjüdischen Lebens im  Scheunenviertel wieder zum Leben erweckt wird. Allerdings müssen  Leserinnen und Leser bereit sein, sich in die Lebensgeschichte jeder  einzelnen Person und die zahlreichen, oft jiddischen Dialoge  konzentriert einzulesen. Dann gelingt das Eintauchen in die so  zahlreichen Facetten der vergangenen ostjüdischen Berliner Lebenswelt.

Die Rezension erschien im Feuilletonscout - dem Kulturmagazin für Entdecker am 17. Juli 2020



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